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Fußball HSV und VfB

Wenn alle Notfallsysteme ausgereizt sind

Seit Wochen versuchen der Hamburger SV und VfB Stuttgart der Abstiegsregion in der Fußball-Bundesliga zu entkommen. Der Glaube an die Tradition droht beiden zum Verhängnis zu werden.

Sie saßen noch eine ganze Weile in der Kabine. Huub Stevens wollte seine Verlierer von Nürnberg nicht so schnell gehen lassen. Für den verstimmten Trainer des VfB Stuttgart gab es noch einiges zu besprechen. Abstiegskampf, das passt einfach nicht in die große Geschichte des VfB. Aber in Schönheit absteigen, mit viel Tradition im Gepäck gar? Es war überdeutlich, dass die harte Gangart der abstiegskampferprobten Nürnberger besser zum Überlebenskampf in Deutschlands Eliteliga passte. Die Erkenntnis tat mehr weh als jede kassierte Grätsche auf dem Feld.

Mit dem VfB Stuttgart und dem Hamburger SV strampeln seit Wochen zwei bedeutende Klubs, weil ihnen der Ligaboden unter den Füßen zu entschwinden droht. Meisterschaften, Europapokalteilnahmen und jetzt: Ein Punkt gegen Freiburg, eine Niederlage gegen Nürnberg.

Es gibt Parallelen in diesem Abstiegskampf, die über den großen Namen hinaus gehen. In Hamburg und Stuttgart haben sie je 24 Punkte, bei sechs Siegen, sechs Unentschieden und 15 Niederlagen. Torverhältnis bei beiden: Minus 14. Und auch die Notfallsysteme von VfB und HSV sind ausgereizt. Beide entließen ihre Trainer. Beide taten es ein zweites Mal.

Völlige Fehleinschätzungen

Teams mit hohen Ansprüchen und auf dem Papier gut zusammengestellten Kadern haben es nicht leicht, unter der Saison noch schnell Strukturen für den Abstiegskampf zu schaffen. Carl-Edgar Jarchow, HSV-Vorstandsvorsitzender, sah seinen Verein sogar noch auf Augenhöhe mit Europacup-Aspiranten: „Bayern, Dortmund und Leverkusen erwartet man vorn, danach sollten Schalke, Wolfsburg und wir kommen“, sagte er zu Beginn der Saison. Der HSV-Kader wurde darauf ausgelegt, das Spiel zu machen. Gegen die späteren direkten Abstiegskonkurrenten, wie die von vornherein abstiegsbedrohten Bremer, die sich stark zurückziehen und harte Zweikämpfe suchen, zog der HSV den Kürzeren.

Auch Stuttgarts Sportchef Fredi Bobic sah zu Beginn der Rückrunde ein: „Die Zweikampfpräsenz hat mir überhaupt nicht gefallen, dabei ist das im Fußball die Grundlage. Unter der Woche hauen sich die Spieler im Training auf die Füße, doch im Spiel passiert viel zu wenig.“ Dazu musste Bobic auch noch mit dem Stuttgarter Sparkonzept zurechtkommen. Seit 2010 hat sich der Personaletat der Schwaben um ein Drittel von 60 auf 40 Millionen Euro verkleinert. Der Anspruch der Fans, der Anspruch der Vereinsführung und vor allem die Visionen, die man noch zu Saisonbeginn hatte, blieben dennoch hoch.

In Stuttgart wagte man zu Beginn noch vorsichtig an die Champions League zu denken. VfB-Präsident Bernd Wahler sagte nach seinem Amtsantritt Mitte 2013: „Unser Ziel ist der internationale Wettbewerb. Vielleicht können wir mit etwas Glück an einem Champions-League-Platz schnuppern.“ Daraus wurde später das Ziel „Europa League“. Im letzten Dezember korrigierte sich Wahler erneut: „Unser Bestreben ist nicht, auf Teufel komm raus Sechster oder Siebter zu werden. Wichtiger ist unser Bekenntnis zur Jugend. Wenn wir am Ende Neunter werden, wäre alles in Ordnung.“

Zu spät den Ernst der Lage erkannt

Dann kam dem Stuttgarter Gefühl für Realität auch noch eine starke Winterpause dazwischen. Das Trainingslager in Südafrika lief so gut, dass neuer Mut geschöpft wurde. Im ersten Spiel des neuen Jahres brachten die Schwaben Bayern München an den Rand eines Punktverlustes, wenn Thiago die neutralen Zuschauer nicht mit einem sehenswerten Seitfallzieher in der Nachspielzeit beschenkt hätte. Abgehakt wird so etwas im Fußball meistens unter Pech. Weisheiten wie die, dass sich Pech und Glück über das Jahr irgendwie ausgleichen, sind Gift für Vereine wie Stuttgart oder Hamburg, die eigentlich Größeres vorhaben.

Zumindest in Stuttgart müssen sie mit der Kritik leben, zu spät den Ernst der Lage erkannt zu haben. Auch in Hamburg entlud sich die schwelende Diskussion um den Klassenerhalt erst so richtig im Februar. Nach einem peinlichen 0:3 gegen Aufsteiger Berlin. Am selben Spieltag verlor der VfB daheim mit 1:4 gegen Augsburg. „Wir haben uns selbst zerschossen“, attestierte der damalige Coach Thomas Schneider noch. Abseits des Balles schlug obendrein Vedad Ibišević dem Augsburger Callsen-Bracker ins Gesicht, sah Rot und wurde für fünf Spiele gesperrt. Dazu fehlte Christian Gentner verletzt. Stuttgart gingen plötzlich die letzten Anführer verloren.

Stimmung zwischen Verzweiflung und Wut

Die erfolgsverwöhnten Fans beider Teams haben unterschiedliche Ansätze gefunden, mit dem Thema „Klassenerhalt“ umzugehen. Die Stimmung in Stuttgart schwankt zwischen Verzweiflung und Wut. Noch feuern die Zuschauer ihr Team an. Nach Niederlagen allerdings gibt es Pfiffe oder Mitleid. Fredi Bobic musste mit Präsident Wahler nach dem Spiel gegen Braunschweig Beziehungsarbeit an den Tribünen leisten. Auffallende Aktionen wie in Hamburg lassen sie im Süden nicht erkennen, außerhalb des Stadions scheint niemand für den VfB zu kämpfen.

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Die HSV-Profis dagegen können sich über fehlende Unterstützung nicht beschweren. So auch nach dem kurzzeitigen Rückstand gegen Freiburg am Mittwoch, als die Fans der Hanseaten ihr Team immer wieder antrieben. Das „Hamburger Abendblatt“ rief gar zur Aktion „Niemals 2. Liga!“ auf und druckt eine Fotoserie, solange sich der HSV in akuter Gefahr befindet.

Der Hoffnungsträger im Norden heißt Pierre-Michel Lasogga. Er ist von Hertha nur ausgeliehen, zeigt aber das größte Hamburger Herz. Gegen Freiburg traf er, die Mehrzahl der Hamburger Torchancen erarbeite er sich. Und in jeden Zweikampf warf er sich auch. Einen wie ihn hätten sie auch in Stuttgart gerne. Dort halten sie sich allenfalls noch an den Auftritten von Alexandru Maxim und Ibrahima Traoé fest. Sturmtalent Timo Werner, dessen Vertrag gerade verlängert wurde, könnte ein Hoffnungsträger für den Wiederaufstieg werden. Falls – ja, falls es den VfB am Ende erwischt.

Hamburg und Stuttgart klammern sich an ihre Tradition, als würde es dafür Bonuspunkte geben. Tradition aber bedeutet auch das Weitergeben von Verhaltensmustern, die nicht angeboren, sondern erlernt sind. Bei den hohen sportlichen Ansprüchen der beiden gehörte das Spielen gegen den Abstieg selten zur Tradition. Genau das droht ihnen nun zum Verhängnis zu werden.

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