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Visionär Hakan Calhanoglu: Eine steile Karriere mit Störfällen

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Visionär Hakan Calhanoglu: Eine steile Karriere mit Störfällen

Ballkünstler und Freigeist: Hakan Calhanoglu.

Ballkünstler und Freigeist: Hakan Calhanoglu. imago images

Wenn er sich nicht gerade mit Assists oder Freistößen beschäftigt, ist Hakan Calhanoglu ein Teil dieser bedrohten Fußballer-Spezies, der ruhige, manchmal melancholische Profis angehören, die jeder Tifoso am liebsten brüsk wachrütteln würde. In einem Moment der euphorische Calhanoglu nach einem seiner genialen Schüsse unter die Latte, im nächsten dann wieder der gemütliche Hakan, der in seine Komfortzone abtaucht. Denn dort lässt es sich gut leben. Ein Pässchen hier, ein Ballgewinn da - eingeheimst ist der komfortable Dreier.

An guten Tagen zeigt er die - ihm durchaus mögliche - Leistung für eine glatte Eins oder zumindest eine gute Zwei. Doch Unbeständigkeit ist eben eine Last. Ein Mailänder Sisyphos, der in seinen fünf Jahren in der Lombardei gelegentlich den Gipfel erklomm und dann wieder an dessen Fuß herunterrollte. Die Zahlen sprechen freilich in den höchsten Tönen vom in Mannheim aufgewachsenen Deutsch-Türken: neun Treffer und 14 Assists in 51 Spielen für Inter, 32 Treffer und 48 Vorlagen in 172 Pflichteinsätzen für Milan. Da gibt es schlechtere Quoten.

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Calhanoglu ist kein überragender Dribbler, und auf engem Raum nimmt die Qualität seiner Ballkontrolle drastisch ab. Auch deshalb war er nie wirklich eine zentrale Zehn, die jeden Ball fordert. Sondern eher ein Spieler, der beschleunigt, der sich inmitten der Unordnung erhebt und das Risiko liebt. Je mehr Calhanoglu in Systeme eingebunden wird, die seine Imperfektion akzeptieren, die sein Vertikalspiel fördern, desto besser funktioniert sein anarchischer Stil.

Das war auch schon in Karlsruhe so. Dort, keine 70 Kilometer entfernt von seinem Geburtsort Mannheim, war Calhanoglu schon mit 18 Jahren ein Star. Wenn auch nur in der 3. Liga. Damals schoss er den Karlsruher SC zum Aufstieg, 17 Tore, elf Vorlagen, nicht schlecht für einen Teenager.

U-19-Klassenerhalt statt rauschender Aufstiegsparty

Wie ein solcher verhielt sich der Jungprofi aber nicht immer. Sicher, ein bisschen feiern musste sein nach dem Aufstieg mit dem KSC, in einer Karlsruher Disco zelebrierten die Mitspieler die Rückkehr in die Zweitklassigkeit bis in die frühen Morgenstunden. Nicht so Calhanoglu. Der war zwar dabei, hatte sicher auch seinen Spaß, Alkohol floss wenn dann aber nur bei den Kollegen.

Am nächsten Tag stand nämlich das entscheidende Spiel der Karlsruher U 19 gegen den 1. FC Nürnberg an, bei einer Niederlage drohte der Abstieg. 89 Minuten lang half Calhanoglu mit, den 1:0-Sieg und damit die Klasse zu sichern. Bei dieser Einstellung und den gezeigten Leistungen war es keine Überraschung, dass alsbald größere Vereine das Offensivjuwel jagten.

Den Zuschlag bekam aber der Hamburger SV, wo sich Calhanoglu zunächst als Lehrling beweisen sollte - so die Vorstellung des damaligen Trainers Thorsten Fink. Der hatte die Rechnung jedoch ohne den selbstbewussten Hakan gemacht. Der betonte nämlich in seinem ersten Trainingslager, dass er gekommen sei, um zu spielen, nicht um zu lernen.

Die Uhr bleibt nicht stehen.

Hakan Calhanoglu

Selbstbewusst, aber keineswegs arrogant, kam der Jungspund damals rüber, eine gewisse Reife hat er damals schon an den Tag gelegt. So auch mehrere Monate später, als der HSV mit dem Rücken zur Wand stand und unbedingt in der Liga bleiben wollte. Der kicker hatte Calhanoglu kurz vor dem Bundesliga-Finale gefragt, ob er sich vor der legendären Bundesliga-Uhr des Dinos ablichten lassen wolle.

Die Zweifel der Medienabteilung, dass so ein Foto einem im Falle eines Misserfolgs ganz schnell vor die Füße fallen könne, parierte er lapidar mit der überzeugenden Antwort: "Die Uhr bleibt nicht stehen." Zweifel plagen den offensiven Mittelfeldspieler nicht, der mit elf Toren und vier Assists zum Klassenerhalt beitrug.

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2014 ging es nach Leverkusen, wo Calhanoglu von einer offensiven Halbposition aus agierte, aber bei Weitem noch nicht den strategischen Einfluss auf das Bayer-Spiel ausübte, wie er es nun bei Inter tut. Dennoch wurde 2017 Stadtrivale Milan auf Calhanoglu aufmerksam, nach dem Ende der Berlusconi-Ära gehörte er zu Milans ersten kostspieligen Verpflichtungen im Zeichen des Aufbruchs in eine Zukunft ohne den Cavaliere. Rund 23 Millionen Euro zahlten die Mailänder an Leverkusen - verzaubert von diesem Talent und einem Freistoßtor gegen Dortmund aus über 40 Metern.

Calhanoglu nach Leipzig? Gattuso legt sein Veto ein

Vier Trainer erlebte der junge Türke bei der AC, alle erkannten dessen Fähigkeiten - und sein Kernproblem. So auch der damals aktuelle Milan- und heutige Valencia-Coach Gennaro Gattuso: "Hakan ist fundamental für unser Spiel. Jemand, der taktisch und als Freistoß-Gott herausragt." Aber der Ballkünstler müsse das eben mal "kontinuierlich beweisen". Die Unbeständigkeit machte ihn bei Milan verzichtbar. Das Vorhaben der Klubführung, Calhanoglu nach Leipzig zu transferieren, scheiterte jedoch an Gattusos Veto.

In diesen schweren Momenten bewies er trotz allem Persönlichkeit und Professionalität. Die Belohnung wartete im Januar 2020 in Person von Zlatan Ibrahimovic, dessen Verpflichtung Calhanoglu explodieren ließ. Die bodenständige Nummer zehn hinter dem schwedischen Super-Ego - das funktionierte fabelhaft. "Ibra" erkor Calhanoglu zu seinem Lieblingspartner auf und abseits des Rasens.

Auch der Ex-Leverkusener schwärmte: "Zlatans Besessenheit vom Erfolg hat uns allen weitergeholfen. Er zeigt mir meine Fehler auf, davon profitiere ich enorm." Sie verstanden sich privat bestens, an die gemeinsamen Spritztouren der beiden Stars auf dem Motorroller gewöhnte sich Mailand schnell.

Ibrahimovic: "Sendet einen Gruß an Hakan"

Dann wechselte der in Italien "Calha" getaufte Profi zu Inter, und das Verhältnis kühlte ab. "Sendet einen Gruß an Hakan", brüllte "Ibra" verächtlich ins Feier-Mikro, nachdem Milan die Meisterschaft im letzten Mai ohne Calhanoglu gewonnen hatte. Die Fans antworteten mit einer, nun ja, nicht jugendfreien Wortwahl. Da ließ Calhanoglus Reaktion nicht lange auf sich warten: "Er ist 40 und oft verletzt und hat wohl nichts anderes zu erzählen." Zu mehr ließ er sich nicht hinreißen. Augen zu, neuen Coach begrüßen und weiter.

Trotzdem lief nicht immer alles glatt mit dem introvertierten Profi. So sorgte das Theater um seinen Wechsel vom HSV nach Leverkusen 2014 für Chaos. Damals hatte er den Hanseaten Treue geschworen und bis 2018 verlängert, um sich im Sommer dann doch nach Leverkusen abzusetzen. Calhanoglu blieb dem Trainingsstart des HSV fern, änderte seine Handynummer und ließ sich per Attest wegen psychischer Probleme krankschreiben - wegen der üblen Fanbeleidigungen, hieß es.

In Hamburg konnte ich kaum mehr aus dem Haus gehen.

Hakan Calhanoglu

Viele zweifelten das an, vor allem als er nach dem Medizincheck in Leverkusen wundersam vorzeitig wieder als genesen diagnostiziert wurde. Calhanoglu verteidigte sich später: "In Hamburg konnte ich kaum mehr aus dem Haus gehen. Ich wurde von allen Seiten beleidigt. Mein Auto wurde kaputt geschlagen. Im Internet erhielt ich Beschimpfungen. Dann war ich mental auch nicht mehr so stark und brauchte professionelle Unterstützung."

Außerdem habe ihm der damalige Manager Oliver Kreuzer bei einer passenden Offerte garantiert, ihn ziehen zu lassen, Calhanoglu dann, als er sie annehmen wollte, jedoch öffentlich als Verräter dargestellt. Die Offerte aus Leverkusen sei damals finanziell nicht angemessen gewesen, verteidigte sich Kreuzer, er habe einem Wechsel zwar zugestimmt - aber eben nicht zu jedem Preis.

Waffen und Ibrahimovic sind Geschichte

Auch Anfang 2017 gab es Ärger: Da wurde Calhanoglu für vier Monate gesperrt, weil sein Ex-Klub Trabzonspor, für den Calhanoglu 2011 als noch Minderjähriger einen Vorvertrag unterzeichnet hatte, dann allerdings beim Karlsruher SC verlängerte, klagte. Überhaupt die Türkei: In deren Nationalelf, für die sich der Offensivspieler in der U 16 entschieden hatte, sorgte eine Auseinandersetzung für Unmut.

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Nach einem Spiel im Oktober 2013 gerieten Ömer Toprak und Gökhan Töre aneinander, offenbar ging es um eine Liebesaffäre. "Ich habe Panik bekommen", beschrieb Calhanoglu den Vorfall erst Monate später im "Aktuellen Sportstudio". "Ein Freund von Töre bedrohte Toprak und mich mit einer Waffe. Ich lag in einer Ecke, er ist zu mir gekommen und sagte: Beweg' dich nicht, sonst erschieß ich dich."

Mittlerweile ist diese beständige Unbeständigkeit in Calhanoglus Karriere fast verschwunden. Waffen und Ibrahimovic sind Geschichte, Inter benötigt den potenziellen Visionär, um gegen die europäische Elite zu bestehen. Denn das Endspiel findet just in dessen zweiter Heimat Istanbul statt, vielleicht sendet Hakan dann "Ibra" einen Gruß durchs Mikrofon: Die Champions League hat nämlich selbst der schwedische Superstar noch nicht gewonnen. Die erste Hürde auf dem Weg zu deren Gewinn ist heute Abend (21 Uhr, LIVE! bei kicker & DAZN) der FC Bayern.

Oliver Birkner