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Schalke: Als die Dämme brachen

Die vier unvergesslichsten Minuten der Bundesliga

Schalke: Als die Dämme brachen

Fassungslos: Die Schalker Spieler und ihr Huub Stevens können das jähe Ende des Meistertraums nicht fassen.

Fassungslos: Die Schalker Spieler und ihr Huub Stevens können das jähe Ende des Meistertraums nicht fassen. picture alliance

Ein Schrei. Der wohl lauteste Schrei in der Geschichte des Parkstadions. 65.000 Zuschauer haben sich an diesem 19. Mai 2001 in der Betonschüssel versammelt, und um 17.16 Uhr entfachen sie die akustische Explosion. 65.000 Kehlen, ein Orkan. Das Echo auf ein Tor, das gar nicht auf Schalke fällt, sondern in Hamburg. Sergej Barbarez köpft das 1:0 für den HSV gegen den FC Bayern. Das Fernduell mit den Münchnern um die deutsche Meisterschaft scheint sich in letzter Minute wundergleich zugunsten der Schalker zu drehen.

Aus Jubel wurde Jammer

Vier Minuten im Mai

Nur: Es war nicht die letzte Minute. Etwas mehr als vier weitere folgten, und die machten das Ende der Saison 2000/01 zum spannendsten, zum emotionalsten Finale, das die Bundesliga bis heute erlebt hat. Vier Minuten, in denen aus dem Schalker Jubel Jammer wurde, aus Trubel Trauer und Tränen. Ein ständiges Auf und Ab im Kampf um die Schale hatte die Bundesliga schon in den Wochen zuvor in Atem gehalten. Schalke und Bayern lagen nach 32 Spieltagen gleichauf auf den Rängen eins und zwei. Zwei Siege, und Schalke wäre erstmals nach 1958 wieder Meister geworden. Doch in Runde 33 verlor Schalke in Stuttgart, Bayern gewann gegen Kaiserslautern; München lag vor dem 34. Spieltag drei Punkte vorn.

Rudi Assauer

Völlig geknickt nach der verpassten Meisterschaft: Schalkes Manager Rudi Assauer. picture alliance

Ganz Deutschland gönnt uns den Titel.

Andy Möller

Dass vor dem Heimspiel gegen Unterhaching eigentlich nichts mehr für Schalke sprach, lässt den letzten Akt im Nachhinein umso dramatischer erscheinen. Dann dieser Schrei. Tor in Hamburg, Barbarez. Kurz nachdem Ebbe Sand auf Schalke das 5:3 markiert hatte. Barbarez, Sands Konkurrent um die Torjägerkanone. Bayern liegt zurück. In der 90. Minute! Schalke ist Meister! Oder? Ja, sicher! Glauben zumindest die 65.000 im Parkstadion. Meister! Alle Dämme brechen. Ein riesiges königsblaues Knäuel aus Menschen bedeckt den Rasen. Die Schalker Hauptdarsteller mittendrin. Trainer Huub Stevens, Rudi Assauer, der damals noch allgewaltige Manager, die Spieler, ihre Betreuer. Meister. "Ganz Deutschland gönnt uns den Titel", hatte Andy Möller, zwölf Monate zuvor vom ungeliebten Nachbarn Dortmund geholt, frohlockt - jetzt war es so weit, oder?

Feindbild Markus Merk

Es war nicht so weit. Die Szenen nach dem Schlusspfiff auf Schalke: bizarr, unwirklich. Denn auf der riesigen Videowand hinter der Südkurve flackerten ganz plötzlich bewegte Bilder eines Fußballspiels auf. Die feiernden 65.000 brauchten einige Sekunden, um zu begreifen, was sie da sahen. Hamburg gegen Bayern. Hamburg gegen Bayern? Live? Entsetzen machte sich breit. In Hamburg war noch nicht Schluss. 65.000 Schalker schauten auf. Und dann musste es ihnen vorkommen, als würden sie Zeugen ihrer eigenen Hinrichtung. 17.20 Uhr. Schiedsrichter Markus Merk gibt indirekten Freistoß für Bayern, weil HSV-Keeper Mathias Schober, der zuvor zehn Jahre für Schalke gespielt hatte, einen Rückpass - war es wirklich einer? - von Tomas Ujfalusi mit der Hand aufgenommen hatte.

Schalker Fans

Die Schalker Fans wollten auf dem Rasen des Parkstadions schon den Titel feiern, bis die Horror-Nachricht aus Hamburg kam. picture alliance

Dann das Tor. Patrik Andersson verwandelt den Freistoß, Ausgleich für Bayern, und alle auf Schalke können es sehen. Aus der Traum. Durch das 1:1 holt Bayern den Titel. Das Parkstadion wird zum Tal der Tränen. Der Begriff "Meister der Herzen" wird in den Stunden danach geboren. Das Mitleid ist ein schwacher Trost für die entgangene Schale, den entgangenen Ruhm, die entgangene Chance, es den großen Bayern mal zu zeigen. Schober kehrte 2007 nach Gelsenkirchen zurück. Merk, zum Feindbild geworden, pfiff nie wieder auf Schalke, kam erst 2011 als Sky-Experte zurück, wurde angepöbelt und beworfen.

Die Erinnerung an jenen 19. Mai 2001 - sie bleibt für immer.

Der Artikel erschien in der kicker-Sonderedition "Unvergessene Momente" (2011).

Manfred Ewald